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9.12.2022
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Geniale Vordenkerinnen

Die eine hatte ein legendäres Bankhaus und war reicher als Rothschild. Die andere brachte das erste Fotobuch der Welt heraus. Und die nächste schrieb in den 1840er Jahren ein Computerprogramm. Alle haben sie eines gemeinsam: Sie waren Pionierinnen in ihrem Fachgebiet – und lange Zeit unbekannt.

Die gute Nachricht zuerst: Das Europäische Patentamt (EPA) hat 2022 so viele Frauen wie noch nie mit dem Europäischen Erfinderpreis ausgezeichnet. Die Beste in der Kategorie „Forschung“ wurde Claude Grison aus Frankreich. Sie hat eine Methode gefunden, Böden mit metallfressenden Pflanzen zu entgiften. Was nach Science-Fiction klingt, ist ganz real und doppelt genial. Denn die Wissenschaftlerin setzt nicht nur grüne Helferinnen wie das Dickblattgewächs Sedum plumbizincicola ein, um aus der Erde Blei, Cadmium, Mangan, Nickel oder Zink zu ziehen. Sie gewinnt auch aus diesen Pflanzen Metallsalze und bereitet diese zu „Ökokatalysatoren“ auf, die chemische Reaktionen beschleunigen können. 

Erstklassige Ideen – aber niedrige Erfinderinnenquote 

Den ersten Platz des EPA-Preises für „Junge Erfinder“ hat Erin Smith herbeigeforscht. Die US-amerikanische Studentin entwickelte eine Gesichtserkennungs-App, die mit KI, also Künstlicher Intelligenz, arbeitet. Dieses Programm kann kleinste Veränderungen der Mimik in Videoaufnahmen erkennen. Und so erste Anzeichen einer Parkinsonerkrankung aufspüren. Vom anpassungsfähigen Stützskelett für Kinder im Rollstuhl bis zu Impfstoffen, mit denen das Immunsystem Krebszellen erkennen und zerstören kann – die Innovationen der ausgezeichneten Forscherinnen sind so vielfältig wie bahnbrechend.

Alles wunderbar, könnte man meinen. Doch jetzt kommt die schlechte Nachricht: Noch immer reichen viel weniger Frauen als Männer ihre Entdeckungen beim Patentamt ein. Laut einer Studie des Europäischen Patentamts lag die Erfinderinnenquote in Europa 2019 bei nur 13,2 Prozent. Dabei landete Deutschland im Zeitraum von 2010 bis 2019 mit 10 Prozent auf einem der letzten Plätze. Knapp vor Liechtenstein mit 9,6 und Österreich mit 8 Prozent. 

Frauen forschen (wo)anders

Warum ist die Bundesrepublik so weit abgeschlagen? Das Team des Patentamts vermutet, dass es am deutschen Forschungsschwerpunkt Maschinenbau und Elektrotechnik liegt. Innovative Frauen seien eher in den Bereichen Chemie, Biotechnologie und Arzneimittel unterwegs. Außerdem hätten mehr Privatunternehmen als öffentliche Einrichtungen oder Hochschulen Patente eingereicht. Doch in der privaten Wirtschaft arbeiten laut dem Europäischen Patentamt weniger Frauen als Männer. 

Weibliche Höhenflüge wurden verhindert

Vielleicht liegt das laue Ergebnis auch mit an den fehlenden Rollenvorbildern. Denn obwohl es in der Vergangenheit viele geniale Frauen gab, haben sich ihre Leistungen durch die Jahrhunderte hindurch verläppert. In patriarchalen Gesellschaften wollte man lieber Heldengeschichten erzählen als kluge Vordenkerinnen feiern. Männer managen die Welt – und Frauen das traute Heim. Das war lange Zeit der Status quo. Und noch bis 1977 hieß es im deutschen „Bürgerlichen Gesetzbuch“, Paragraf 1356: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Im Klartext: Haushalt ist per Gesetz Frauensache. Und wenn der Ehepartner nicht will, dass seine Angetraute Geld verdient, dann bleibt sie eben daheim. Zum Bodenwischenkochenspülenbügelnkinderbetreuen.

Das allererste Computerprogramm? Uninteressant.

Um so erstaunlicher ist es, wie viele Frauen in der Geschichte trotzdem Wegweisendes erschaffen haben. So entwickelte zum Beispiel die Londonerin Ada Lovelace (1815-1852), geborene Augusta Ada Byron, in den 1840er Jahren das erste Computerprogramm der Welt. Die Mathematikerin schrieb ausführliche Kommentare zur Rechenmaschine von Charles Babbage. Dort formulierte sie auch Rechenbefehle, die moderne Programmiersprachen vorwegnehmen. Denn Ada Lovelace dachte die nie gebaute „Analytical Engine“ viel größer als ihre Mitmenschen. Die Tochter des berühmten Dichters Lord Byron war überzeugt, dass man mit der Maschine etwa auch Musik komponieren könne. Für ihre naturwissenschaftliche Bildung setzte sich ihre Mutter Anne Isabella Milbanke ein, die sich selbst für Mathematik begeisterte. Zu Lebzeiten interessiert sich aber kaum jemand für Ada Lovelaces Geniestreich. Erst im 20. Jahrhundert wird die Vordenkerin wiederentdeckt.  

Der weltweit erste Fotoband – na und?

Anna Atkins (1799–1871), geborene Anna Children, war in der Fotogeschichte lange Zeit nur eine Randnotiz. Wenn überhaupt. Dabei hat die Botanikerin, Illustratorin und Fotografin 1843 mit „Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions“ das weltweit erste Buch mit Fotografien veröffentlicht. Erst kurz vorher hatte ein Bekannter von ihr, Sir John Herschel, die Cyanotypie erfunden. Gegenstände, die auf einer lichtempfindlichen Schicht liegen und mit Sonnenstrahlen belichtet werden, bilden sich als weiße Silhouette ab. Die restliche Fläche färbt sich nach dem Spülen mit Wasser meerblau. Anna Atkins platzierte gepresste Algen auf präpariertem Papier und schuf so zauberschöne, botanisch exakte Abbildungen. Da ihre Mutter früh gestorben war, hatte ihr Vater John George Children die Erziehung übernommen. Dabei ließ er seiner Tochter viel Raum für wissenschaftliche und künstlerische Studien. Gemeinsam experimentierten sie auch mit Fotografie. Denn zu ihrem Freundeskreis gehörte William Henry Fox Talbot, der ihnen das neue Medium nahebrachte. Obwohl sich der Fotograf sehr wohlwollend über das Algen-Buch äußerte, erlebte die Urheberin keine künstlerischen oder botanischen Erfolge damit. In jüngster Zeit wird endlich die Pionierleistung der Engländerin gewürdigt. Passend dazu haben Marion Blomeyer und Rolf Sachsse 2021 ein feines Büchlein mit Anna Atkins‘ „Blue Prints“ herausgebracht. 

Der lange Weg zur Anerkennung

Ohne die Unterstützung der Familie oder Ehemänner war es Frauen kaum möglich, Studien zu betreiben. Bei Maria Gräfin von Linden (1869–1936) half der Großonkel weiter, der gute Kontakte zur württembergischen Regierung hatte. Über ihn bekam die junge Frau von Schloss Burgberg bei Heidenheim eine königliche Sondergenehmigung. Mit dieser Lizenz zum Lernen schrieb sie sich 1892 als erste Studentin Württembergs an der Universität Tübingen ein. Allerdings durfte sie als Frau nur Gasthörerin sein. Sie belegte die Fächer Zoologie, Physik und Botanik und promovierte als erste Frau Deutschlands in den Naturwissenschaften. In Bonn forschte sie an der Bekämpfung von Tuberkulose und entdeckte, dass Kupfer eine antiseptische Wirkung hat. Mit dieser Erkenntnis entwickelte sie dann mit der Firma Paul Hartmann steriles Verbands- und Nahtmaterial. Obwohl sie als erste Frau Deutschlands den Professorentitel verliehen bekam, durfte sie nicht lehren und konnte lange Zeit nicht von ihrer Arbeit leben. 

Erstaunlich viele Dinge, die heute ganz selbstverständlich sind, haben Frauen entwickelt:

  • Das erste Kuscheltier stammt von Margarete Steiff (1847-1909), die 1880 ein „Elefäntle“ aus Filz näht. Es war als Nadelkissen gedacht, kommt aber bei Kindern als Spielzeug so gut an, dass die Geschäftsfrau mit den „Steiff-Tieren“ eine Weltmarke schafft.  

  • Josephine Cochrane (1839-1913), die Tochter eines Bauingenieurs, erfindet 1886 die erste Spülmaschine, wobei sie ihre exzellenten Hydraulikkenntnisse einsetzt.

  • Margaret A. Wilcox (1838-?) aus Chicago ist eine der ersten Maschinenbauingenieurinnen. Sie erhält 1890 ein Patent auf eine kombinierte Wasch- und Geschirrspülmaschine und erfindet 1893 die Autoheizung.  

  • Mary Anderson (1866-1953) meldet 1903 eine „Fensterreinigungsvorrichtung für Autos und andere Fahrzeuge zur Entfernung von Schnee, Eis oder Graupel von der Scheibe“ zum Patent an. Damit hatte die US-Amerikanerin den Scheibenwischer erfunden.

  • Echte Kaffeeprofis schwören wieder auf den Filterkaffee. Um 1908 baut Melitta Bentz (1873-1950), eine Hausfrau und Mutter aus Dresden, den Prototyp dazu. In einen Messingtopf schlägt sie Löcher und setzt ein zusammengerolltes Löschpapier hinein. Voilà. So legt sie den Grundstein für ein internationales Kaffeefilter-Unternehmen.

  • Frances Glessner Lee (1878–1962) gilt als die Mutter der modernen Forensik, also der systematischen Untersuchung von Verbrechen. In den 1940er Jahren fertigt die US-Amerikanerin kleine dreidimensionale Nachbauten des Tatorts für Studienzwecke an. Und nennt diese mörderischen Puppenstuben „The nutshell studies of unexplained death“ (Kurzstudien der ungeklärten Todesfälle). 

  • Dank Katharine B. Blodgett (1898-1979) sehen wir klarer: Sie ist die erste Frau, die in Physik an der Universität Cambridge promoviert hat. 1938 lässt sich die US-Amerikanerin die Herstellung von entspiegeltem Glas patentieren. 

  • Die deutsche Chemikerin Marga Faulstich (1915-1998) tüftelt fast zeitgleich an optischen Gläsern. Sie entwickelt rund 300 Typen. Das leichte Brillenglas „Schwerflint 64“ mit Titan statt Blei wird das bekannteste und gewinnt 1973 einen Innovationspreis.

  • Die mondäne Wiener Schauspielerin Hedy Lamarr (1914-2000), geborene Hedwig Eva Maria Kiesler, meldet 1941 mit dem Komponisten George Antheil ein US-Patent für ein geheimes Kommunikationssystem an. Dieses schafft die Grundlage für heutiges WLAN, Bluetooth und GPS. 

  • Die amerikanische Chemikerin Stephanie Kwolek (1923-2014) lässt sich 1968 „Kevlar“ patentieren. Die hitzebeständige und starke Kunstfaser wird beispielsweise im Autobau, in der Raumfahrt oder bei der Herstellung von kugelsicheren Westen verwendet.

  • Ohne Margaret Hamilton (*1936) hätte Neil Armstrong nicht den „großen Schritt für die Menschheit“ wagen können. Die amerikanische Mathematikerin hat die Software für den Bordcomputer der Raumfahrtmission Apollo 11 entwickelt, die 1969 den Flug und die Mondlandung steuerte. 

Die Pionierinnen der Wirtschaft

Und heute? Noch immer sitzen sehr viele Männer in Leitungspositionen und sehr viele Frauen bringen ihnen den Kaffee. Das hat auch Jana Lucas festgestellt. Vor ein paar Jahren organisierte sie in einer international tätigen Marketingagentur Workshops für Unternehmen. „Es waren nie Frauen dabei im Vorstand, das hat mich extrem genervt“, sagt die promovierte Kunsthistorikerin am Telefon. Deshalb fing sie an zu forschen, welche Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen und Führungsfrauen es in den vergangenen Jahrhunderten gegeben hat. Und war überrascht, als sie immer mehr faszinierende Biografien entdeckte. 2021 hat sie daraus ein Buch gemacht: „Die geheimen Pionierinnen der Wirtschaft“.

„Es gab viele erfolgreiche Frauen, aber es wird einem nicht vermittelt“,

sagt Jana Lucas. Wie couragiert und innovativ die wirtschaftlichen Vordenkerinnen waren, das bringt die Autorin in 20 spannend erzählten Lebensgeschichten aus sechs Jahrhunderten ans Licht. 

Kluge Ideen und unternehmerisches Denken 

Wir lernen etwa die Venezianerin Christine de Pizan (1365-um 1430) kennen. Die in Paris lebende Philosophin und Schriftstellerin veröffentlicht Anfang des 15. Jahrhunderts Bücher, in denen sie adlige Frauen auffordert, aktiv zu werden und Führungspositionen zu übernehmen. Zu dieser Zeit sehr außergewöhnlich. Auch, dass sie öffentlich ihre Meinung kundtut und von ihren Werken leben kann. Im 18. Jahrhundert hat Madame Kaulla (1739-1809) Großes geschaffen. Die Besitzerin der „Würtembergischen Hof-Banque, M. & J. Kaulla“ gilt zu ihrer Zeit als die reichste Frau Deutschlands. Geboren wurde die jüdische Bankerin als Kaule oder Karoline bat Raphael. Mit etwa 30 Jahren erfindet sie den griffigen Markennamen „Kaulla“, den kurzerhand ihre gesamte Familie annimmt. Das heute angesagte „Agile Arbeiten“ hat die Unternehmensberaterin Mary Parker Follett (1868-1933) schon 1924 formuliert. „Power with“, statt „Power over“ war ihr Credo. Also miteinander arbeiten und nicht hierarchisch von oben nach unten. So unterschiedlich die Pionierinnen waren – Jana Lucas hat zwölf Gemeinsamkeiten gefunden, die sie verbinden. So waren beispielsweise alle mutig, hatten ein großes Ziel, waren rebellisch, aber extrem diszipliniert, waren starke Netzwerkerinnen und haben vorgefertigte Wege verlassen.   

Die schlechte Nachricht zuerst: Immer noch schlummern zahlreiche unbekannte Biografien von genialen Frauen in den Archiven. Jetzt die gute: Es gibt immer mehr Menschen, die sich dafür interessieren.

Links: 

Youtube-Film über die Forensikerin Frances Glessner Lee

Youtube-Film über Anna Atkins‘ Fotobuch

Jana Lucas im Podcast „Der kreative Flow“

Text zu Maria Gräfin von Linden 

Text zur Informatik-Pionierin Ada Lovelace

Text zu Erfinderinnen im National Geographic

Text zu Erfinderinnen in ZDFheute

Texte zu Erfinderinnen und Erfindern des Deutschen Patent- und Markenamts 

Literatur:

Pioniere, Visionärinnen, Erfinderinnen. In: Zeit Wissen, Nr. 2/2022, S. 30–40.

Marion Blomeyer/Rolf Sachsse, Anna Atkins. Blue Prints, München 2021.  

Barbara Sichtermann/Ingo Rose, Frauen – einfach genial. 18 Erfinderinnen, die unsere Welt verändert haben, München 2010. 

Deborah Jaffé, Geniale Frauen – Berühmte Erfinderinnen von Melitta Bentz bis Marie Curie, Düsseldorf 2006. 

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Text von

Annik Aicher

Bilder von

National Cancer Institute

CoWomen

ThisisEngineering RAEng

Kelly Sikkema

Clay Banks

CoWomen

Kelsey Chance

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Autor*in: Jana Lucas
Titel: Die geheimen Pionierinnen der Wirtschaft
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